Selten waren Übernahmekämpfe entspannter: "Osmos" ist ästhetischer Genuss und forderndes Strategiespiel zugleich
Für jede Kraft gibt es eine gleich große, entgegengesetzt gerichtete Gegenkraft.
Isaac Newton
Ein seltsames, kreisrundes Wesen erscheint da auf dem Bildschirm. Durchscheinend, von einer blauen Membran umgeben, mit einem pulsierenden, kleeblattförmigen Kern und einem Gewirr aus wirbelnden weißen Äderchen. "Das bist du", steht da ganz lapidar. Und ehe man sich's versieht, ist man auch schon mitten drin in im Leben als Amöbe, als "Stäubchen", wie es in Osmos heißt. Als Spieler glaubt man durchs Mikroskop zu blicken: Schnell wird klar, dass sich der schimmernde Einzeller sich in einer unwirtlichen Welt bewegt. Denn um ihn herum schweben dutzende von Organismen unterschiedlichster Größe. "Become the biggest" ist das Handlungsprinzip, das uns "Osmos" vorgibt. Wachsen oder schrumpfen, fressen oder gefressen werden: Wer hier nicht expandiert, wird in Kürze assimiliert.

Was nach purer Hektik klingt, ist ein geradezu meditatives Spielerlebnis. "Osmos" lässt sich wohl am besten als "ambient game" bezeichnen. Mit seiner organisch anmutenden Grafik und dem hypnotischen Elektro-Soundtrack zieht es den Spieler tief in eine fremde Welt hinein. Dort sind nicht Geschwindigkeit und Reaktionsvermögen entscheidend, sondern Bedachtsamkeit und planerisches Geschick. Wer überleben will, muss Newtons Gesetz von Kraft und Gegenkraft beherzigen. Denn Fortbewegung ist in "Osmos" mit einem Masseverlust verbunden: Jeder Impuls, den man dem Einzeller gibt, lässt seinen Umfang weiter schrumpfen - und damit auch seine Überlebenschancen. Treffen zwei Organismen aufeinander, saugt der größere den kleineren in sich auf und wächst. Die primäre Herausforderung des Spiels besteht also darin, Beute zu machen, ohne bei der Jagd zu viel an Masse zu verlieren.

Etwas gewöhnungsbedürftig ist zu Beginn die Steuerung. Der Organismus wird nicht etwa mit den Pfeiltasten gelenkt, sondern mit der Maus. Klickt man neben den Einzeller, erhält er einen Impuls in die entgegengesetzte Richtung - je länger der Klick, desto stärker der Impuls. Am besten lässt sich das Ganze wohl mit einem Raketenantrieb oder einem Billard-Stoß vergleichen. Mit vielen kleinen Impulsen lässt sich die "Flugbahn" des Einzellers nachjustieren. Das ist meist auch nötig, weil sich die anderen Einzeller auf schwer zu berechnenden Bahnen bewegen. Zudem kann sich die Beute-Jäger-Konstellation schnell ändern, wenn ein kleiner Organismus plötzlich so groß wird, dass ein Zusammentreffen fatale Folgen hätte. In solchen Fällen heißt es blitzschnell gegensteuern und die Flucht ergreifen. Die bedrohlichen, weil größeren Organismen erkennt man leicht an ihrer rötlichen Färbung, die kleineren sind blau getönt. "Osmos" bietet weitere Hilfsmittel, damit auch im größten Amöben-Getümmel der Überblick nicht verloren geht: Einen Zeitlupen-Modus für brenzlige Situationen, eine Zoom-Funktion, um lohnende "Jagdgründe" zu identifizieren, und einen Shortcut, der die eigene Flugbahn anzeigt.
In Optik und Idee weist "Osmos" Parallelen zu einer ganzen Reihe von Spielen auf: Orbient, fl0w, Gish, Shark! Shark!, Electroplankton - und natürlich auch zur Zellphase von Spore. Dennoch bietet "Osmos" ein einzigartiges Spiel-Erlebnis. Das Gameplay erweist sich als sehr viel spannender, als das Grundprinzip "Fressen/gefressen werden" vermuten lässt.

Anfangs geht es zwar nur darum, der "Hecht im Karpfenteich" zu werden. Später aber treten einzelne Gegner auf den Plan, die es zu besiegen gilt: Zum Beispiel besonders aggressive Einzeller, die ihrerseits hartnäckig Jagd auf Artgenossen machen. Lässt man sie zu lange aus den Augen, wird man plötzlich mit einem übermächtigen Gegner konfrontiert. Oder die "Repulsors", deren Abstoßungskraft sich nur mit viel Energie überwinden lässt und deren Verfolgung zum einem kostspieligen Unterfangen werden kann. Oder aber die "Attractors", die - Schwarzen Löchern ähnlich - alles gnadenlos zu sich heranziehen. Den Sog des "Attractors" kann der Spieler aber auch nutzen, um sich in andere Regionen transportieren lassen - er muss nur rechtzeitig den Absprung schaffen. In den höheren Leveln steigt der Schwierigkeitsgrad beträchtlich an, und es braucht viel Geduld und gutes Timing, um zwischen all den Gefahren zu bestehen.

Angesichts der Spielphysik verwundert es nicht, dass "Osmos"-Chefdesigner Eddie Boxerman sich intensiv mit Raumfahrt-Dynamik beschäftigt hat. Bevor der Kanadier sein Independent-Studio Hemisphere Games gründete, arbeitete er bei Ubisoft Montreal an der "Splinter Cell"-Reihe. Auch der Schöpfer der wunderbaren "Osmos"-Organismen, Kun Chang, war an Mainstream-Projekten wie dem Spiel "Prince of Persia" oder dem Film "Das fünfte Element" beteiligt. Ihre langjährige Erfahrung zahlt sich nun auch für "Osmos" aus: Beim diesjährigen Independent Games Festival war das Spiel völlig zurecht unter den Preisträgern. Seit Mitte August ist die Vollversion für umgerechnet acht Euro auf Steam, Direct2Drive und auf der Studio-Homepage erhältlich. Versionen für Linux, Mac und iPhone sind in Vorbereitung. Wer das Spiel vorab testen möchte, kann sich hier die
Demo-Version herunterladen.
Quelle :
http://www.heise.de/tp/